Sick Burns

Körper, Arbeit und männliche Cyborgs

 

Die NASA-Forscher Manfred Clynes und Nathan S. Kline führen den Begriff „Cyborg“ erstmals in den frühen 1960er Jahren in den wissenschaftlichen Jargon ein. Sie schlagen die technische Anpassung des Menschen an die Umweltbedingungen des Weltraums vor – als nächsten evolutionären Schritt. Die grundsätzliche Idee, technologische bzw. künstlich hergestellte Bestandteile in organische Systeme einzufügen oder sie mit ihnen zu koppeln, ist aber wesentlich älter.

 

Die Fragen nach der Zukunft von schwulen, subkulturellen Männlichkeitsbildern, die Offerus Ablinger in seinem Cyborg-Gemäldezyklus aufwirft, und die Prognosen transhumanistischer Welten, führen uns deswegen ausweglos in die Vergangenheit.

 

Das traditionelle Männerbild westlicher, patriarchaler Gesellschaften ist über Jahrtausende vom körperlichen Leistungsvermögen bestimmt, also von der Fähigkeit zu jagen, Arbeit zu verrichten um damit seine Familie ernähren und Kriegs- und Frontdienst leisten zu können. Aber mit dem Beginn der Industrialisierung wird dieser Sichtweise, und damit dem tradierten Männlichkeitsbild, ein schwerer kultureller Schock beigebracht. Als Kristallisationspunkt will ich die Formel zur Berechnung der mechanischen Arbeit hervorheben, die heutzutage jedes Schulkind lernt: Arbeit ist das Produkt einer Kraft multipliziert mit dem in Kraftrichtung zurückgelegtem Weg. Diese Formel wirkt unschuldig, aber einer physikalischen Größe den Namen „Arbeit“ zu geben, ist keineswegs selbstverständlich und ist untrennbar mit der Entstehung und Verbreitung der kapitalistischen Doktrin verbunden. 1829 wird physikalische Arbeit erstmals in zwei Bücher publiziert: die „Berechnung der Wirkung von Maschinen“ (de Coriolis) und der „Kurs in industrieller Mechanik“ (Poncelet). Beide Bücher sind dem betriebswirtschaftlichen Kontext zuzuordnen, nicht der klassischen universitären Forschung. Die Autoren definieren, dass Arbeit nicht länger als eine dem Menschen vorbehaltene Tätigkeit, eingebettet in einen lebensweltlichen Kontext, gesehen wird: Tiere und Maschinen üben sie jetzt genauso aus wie Federn und Gewichte, solange sie nur einen Widerstand überwinden. Plötzlich gibt es den Anspruch, ein allgemeingültiges, objektives Maß für die Bezahlung von individuellen Arbeitskräften zu besitzen – und jeder „lebendige Motor“ (also Mensch) zeichnete sich dadurch aus, dass er nur eine begrenzte Arbeitsleistung pro Tag erbringen kann. Auch hier sind es ökonomische Fragen: Was ist die maximale tägliche Arbeitsleistung eines Menschen? Der Mensch wird zum kalkulierbaren Teil der Maschinerie – aber auch Opfer ihrer einschüchternden Mächtigkeit. Kein noch so trainierter Körper hat die Möglichkeit sich gegen eine Dampfwalze, ein Presswerk oder einen rasenden Eisenbahnzugs zu Wehr zu setzen. Der/die Arbeiter*in wird zu einem verletzlichen, auf bis dahin unvorstellbare Weise zerstörbaren Wesen. Das verändert natürlich auch das männliche Selbstbild: im Lauf der Dinge ist man nur mehr winzig. Der neu entstehende Fordismus will den Menschen also einerseits maximal verschleißen, ihn aber andererseits auch durch genaue Instruktionen und Richtlinien schützen und den Körper in biopolitischer Sicht möglichst lange produktiv und fruchtbar halten.

 

Auch die zunehmende Industrialisierung der Kriege im 19. Jahrhundert lässt die Zahl der verstümmelten Männer sprunghaft ansteigen. Vor allem der Amerikanische Bürgerkrieg schafft einen Markt an Prothesen und medizinischen Techniken. Die Verletzungen und Entstellungen auf den Schlachtfeldern und wenig sicheren Arbeitsplätzen in der Industrie rufen auch einen Bedarf an künstlichen Augen und plastischer Chirurgie hervor. Es ist deswegen kein Zufall, dass das 19. Jahrhundert ein neues Literaturgenre hervorbringt: Horror. Es präsentiert nicht selten den Körper zermalmende, verändernde, transgressive (Gewalt)orgien, die sich auch in den neuen Medien Fotografie und Film fortführen. Horror lässt Erscheinungsformen des gebrochenen Körpers als Faszinosum und Spektakel sichtbar werden, die in übrigen Diskursen meist ausgeschlossen oder verworfen werden. Vor diesem Hintergrund können die radikalen Körperdarstellungen in der (Populär-)Kunst als der symptomatische Ausdruck einer Krise des Physischen oder einer kulturellen Verunsicherung über Position und Bestimmung des (männlichen) Körpers gelesen werden, die seit der Industrialisierung nicht gelöst wurde. Die Männlichkeit der Gegenwart ist eine (wortwörtlich) Zerrissene.

 

Nicht die Fitness, Kraft und Potenz eines trainierten, muskelbepackten Mannes bringt mehr gesellschaftlichen Status, sondern die Potenz seiner Technologien und der Umgang damit. Plötzlich wird Männlichkeit über die Geschicklichkeit im Umgang mit Technik und digitalen Tools verhandelt. Dies erschließt aber neue subkulturelle Widerstandsräume: (Cyborg-)Technologie kann die heteronormativen, patriarchalen und herrschaftlichen Codes der symbolischen Ordnung durcheinander bringen und dadurch Emanzipationschancen eröffnen. Das tradierte Männlichkeitsbild ist längst ein Zerrbild der technologisch-kapitalistischen Welt. Diese Verzerrung gilt es bis zum Exzess zu treiben: Teledildonik und Sex Machines, Bio-Hacking und Screw-It-Yourself, Körper mit erweiterten sexuellen Möglichkeiten, erotisch-genetische Utopien, das Aufbrechen von biologischen und kulturellen Codes. Unser Körper ist nicht unser Gefängnis. Es ist das, was aus unseren Körpern gemacht wurde, wie sie für uns definiert wurde, was uns unterwirft. Marx sagt, dass alle Verhältnisse umzuwerfen sind, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Zeit uns zu befreien. Wir müssen uns unseren Wünschen widmen, in voller Radikalität. Offerus Ablinger hat sie auf Leinwand gefangen – und auch wir sollten es wagen von ihnen zu träumen.

 

von Johannes Grenzfurthner